Die Welt der Demokratie - ein Überblick
Datum: Mittwoch, 25. Februar 2004 um 23:12
Thema: Politische Systeme im Vergleich


"Ein Überblick von Bruno Kaufmann
Jean-Jacques Rousseaus Idee war denkbar simpel: Menschen brauchen Gesetze für ihr Zusammenleben - und wenn jeder am Abfassen dieser Gesetze mitwirken kann, muss letztlich jeder nur sich selber gehorchen: keine Herrschaft von Menschen über Menschen."


Denkbar simpel, zweifelsohne, aber praktisch unmöglich, so lautet das gängige Verdikt.
Doch in der südbrasilianischen Millionenstadt Porto Alegre sind die Bürger dieser Art Demokratie wenigstens ein Stück näher gekommen. Seit sieben Jahren können sie in Abstimmungen über städtische Haushaltsfragen befinden. "Partizipatives Budget" heißt das Modell. "Die Bürger entscheiden über die Höhe der Einnahmen, der Ausgaben und den Zeitpunkt von Investitionen", erläutert Ademar Becker von der städtischen Finanzabteilung das Prinzip, "die direkte Demokratie, wie wir sie hier praktizieren, hat das Selbstbewusstsein und den Wissensstand der Einwohner gestärkt." Und damit die Entscheidungen wohl informiert sind, machen Regierung und Parlament alle entscheidungsrelevanten Haushaltsdaten mithilfe eines kommunalen Intranets zugänglich.

Fast zwei Drittel der 1,2 Millionen Einwohner von Porto Alegre haben sich seit 1992 am partizipativen Budget beteiligt und über die Verwendung von mehr als einer Milliarde Mark entschieden. Mit Volksbegehren und - in Streitfällen - auch Referenden kann die Bevölkerung bei Baubeschlüssen für Schulen, Spitäler und Straßen sowie Sozialhilfemaßnahmen und Steuerfragen entscheiden.In der Finanzabteilung ist man zufrieden. Die Bürgerentscheide hätten entgegen den ursprünglichen Befürchtungen der Beamten zu einer effizienteren Ausgabenpolitik geführt, sagt Ademar Becker.

Direkte Demokratie ist eben alles andere als eine idealistische Flause der Vergangenheit, ein Thema weltfremder Sektierer. Sie erweist sich vielmehr als höchst praktische Angelegenheit. Porto Alegre hat in Brasilien Schule gemacht: Im fünftgrößten Staat der Welt haben bereits 70 Städte das Verfahren übernommen und direktdemokratische Rechte auf der Gemeindeebene eingeführt. Das UN-Stadtentwicklungsprogramm Habitat hat die Gemeindeordnung Porto Alegres unlängst mit der Höchstnote best practice ausgezeichnet.

Kommunale Volksentscheide sind keine brasilianische Besonderheit. Allein in den Gemeinden der Vereinigten Staaten sind für 1998 fast 10000 Volksentscheide registriert worden; im Freistaat Bayern ist es nach der Einführung des kommunalen Bürgerentscheides vor vier Jahren zu mehr als 400 lokalen Abstimmungen gekommen. Weder fehlt es den Bayern an Themen noch an engagierten Bürgern, vielmehr ist die Kommunalpolitik lebendiger geworden, wie der Münchner Landtagsabgeordnete Klaus Hahnzog (SPD) im kürzlich erschienenen Sammelband Mehr direkte Demokratie wagen (Olzog-Verlag, 1999) bilanziert. Die Bürger möchten insbesondere bei Verkehrsprojekten, Flächennutzungsplänen und in Fragen der Abfallentsorgung mitreden.

Einer der wichtigsten politischen Trends, so schreibt die Weltbank in ihrem Weltentwicklungsbericht 1999/2000, ist die Stärkung der lokalen und regionalen politischen Ebene. Nationalstaatliche Regierungen von Afrika bis Lateinamerika und von Europa bis Südostasien treten Rechte an die bürgernahen, unteren Ebenen ab, heißt es in der Weltbank-Studie und: Laptop und PC, Mobiltelefon und Internet erleichterten die Dezentralisierung. Typischerweise geht dieser Trend mit einer Ausweitung der Bürgerbeteiligung an der Politik einher.

Der Vormarsch der direkten Demokratie beschränkt sich freilich nicht auf diese unteren Ebenen des Staatsaufbaus. "Auch auf der gesamtstaatlichen Ebene stellen wir einen globalen Trend zur direkten Demokratie fest", sagt Andreas Auer; als Direktor des Genfer Forschungs- und Dokumentationszentrums Direkte Demokratie hat er mit Unterstützung von elf Mitarbeitern die Daten von fast 1000 Volksentscheiden in über 200 Staaten und Teilstaaten seit 1791 zusammengetragen und analysiert. In den Jahren 1989 bis 1998 habe sich Zahl der nationalen Volksabstimmungen im Vergleich zum vorhergehenden Jahrzehnt mehr als verdoppelt, gibt Auer an.

Der Umbruch in Osteuropa hat zu nicht weniger als 27 neuen Verfassungen geführt, und die meisten von ihnen sind direkt vom Volk verabschiedet worden. In ihnen finden sich viele Elemente direkter Demokratie; nur in den Grundgesetzen von Jugoslawien und Bosnien sind keine Mitwirkungsrechte der Bürger vorgesehen. Unter den Bevölkerungen des Ostens haben sich die Litauer dieser - zu Sowjetzeiten noch völlig undenkbaren - Möglichkeiten zur Mitbestimmung am intensivsten bedient: Sie bezogen auf nationaler Ebene in den Jahren 1991 bis 1996 zu 17 Sachthemen Stellung, dazu gehörte die Zustimmung zur Eigenstaatlichkeit, zum Abzug der russischen Truppen und zu ihrer neuen Verfassung.

In Westeuropa löste die beschleunigte Integrationspolitik der Europäischen Union eine direktdemokratische Welle mit transnationaler Wirkung aus. So führte das knappe Nein der Dänen zum Maastrichter Unionsvertrag vom 2.Juni1992 zu einer öffentlichen Debatte in ganz Europa über das Integrationsprojekt - eine nützliche Debatte. Österreicher, Finnen, Schweden und Norweger konnten über die EU-Mitgliedschaft entscheiden, Schotten und Waliser stärkten an der Urne ihre regionale Autonomie. In Westeuropa gibt es etliche Staaten, in denen die direkte Demokratie als Ergänzung zum Parlamentarismus eine starke Stellung hat: die Schweiz, Liechtenstein, Italien, Irland und Portugal.

Erste Erfahrungen mit der direkten Demokratie haben in der vergangenen Dekade zahlreiche afrikanische Staaten gemacht. Zu Verfassungsreferenden kam es in den neunziger Jahren in Burkina Faso, Nigeria, Sudan, Gambia und in der Zentralafrikanischen Republik. Zuletzt stimmten am 16. September dieses Jahres bei einem überraschend friedlichen Urnengang im kriegsgeplagten Algerien 99 Prozent der Abstimmenden dem Friedensplan von Präsident Abdelaziz Bouteflika zu. In Lateinamerika hingegen sind nationale Volksentscheide bis auf wenige Ausnahmen in nur zwei Staaten bekannt: Ecuador und Uruguay. Die Genfer Dokumentaristen haben schließlich noch nationale Abstimmungen in Australien registriert, in Neuseeland, Mikronesien, auf den Philippinen und - im Irak.
Am 15. Oktober 1995 ließ Saddam Hussein das Volk darüber abstimmen, ob es ihn als Staatspräsidenten behalten möchte. Bei einer Stimmbeteiligung von 99,47 Prozent sprachen sich 99,99 Prozent für den Diktator aus. Kein Wunder, musste doch das Ausfüllen der Abstimmungszettel unter Aufsicht von Beamten des Regimes geschehen. Der Fall Irak macht deutlich, dass ein Volksentscheid als solcher noch nichts über demokratische Qualität besagt. In der Geschichte des 20. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Beispiele von so genannten Plebisziten, mit denen Autokraten versucht haben, ihrem Regime Legitimation zu verleihen.
Mit einem Mausklick lassen sich die vom Genfer Dokumentationszentrum gesammelten Daten über die Praxis der direkten Demokratie via Internet einsehen.

Der globale Vergleich zeigt: Der Erfolg der direkten Demokratie hängt vom politischen Umfeld, von der juristischen Verbindlichkeit der Volksrechte und von deren Ausgestaltung ab. In Osttimor zum Beispiel war das politische (indonesische) Umfeld für den Volksentscheid vom 30. August - 78,5 Prozent stimmten für die Unabhängigkeit - denkbar ungünstig. Doch meistenteils liegen die Dinge besser. Die New Yorker Menschenrechtsorganisation Freedom House beschreibt die Veränderung der demokratischen Weltkarte folgendermaßen: Zählten die Beobachter im Jahre 1972 nur 43 Staaten, in denen für eine lebendige Demokratie entscheidende Voraussetzungen wie die Meinungsfreiheit, das allgemeine Wahlrecht und ein Mehrparteiensystem respektiert wurden, verdreifachte sich deren Zahl bis 1999. 40 Länder freilich - zum Beispiel Weißrussland und Mexiko - werden von Freedom House als Scheindemokratien bezeichnet, weitere 34 Staaten - wie Serbien und Nordkorea - haben autoritäre Regimes; sollte es in diesen Ländern zu Volksabstimmungen kommen, gibt es für Demokraten daher keinen Anlass, gleich Hurra zu rufen.

Direktdemokratische Instrumente werden vom Volk nur dann ernst genommen, wenn ein Volksentscheid für die herrschende Regierungs- und Parlamentsmehrheit auch verbindlich ist. Andernfalls kann es geschehen, dass zwar eine klare Mehrheit der Stimmenden einer Vorlage zustimmt, die Regierenden dann aber gleichwohl gegenteilig handeln - so geschehen in Schweden im Jahre 1980: Eine komfortable Dreiviertelmehrheit der Schweden sprach sich damals für den Ausstieg aus der Atomenergie aus. Doch weil der Volksentscheid nur konsultativen Charakter hatte, konnte es sich die sozialdemokratische Regierung unter Olof Palme leisten, stattdessen neue Reaktoren ans Netz zu hängen. Ironie der Geschichte: Die Sozialdemokraten benutzen den Betrug am Volk von 1980 heute als Argument gegen die Einführung direktdemokratischer Elemente in Schweden. In Gesellschaften wie der schweizerischen und der amerikanischen, wo die Volksgesetzgebung seit über einem Jahrhundert eine bedeutende Rolle spielt, ist hingegen die Verbindlichkeit von Volksentscheiden die Regel.

Sind Grenzen für die Stimmbeteiligung sinnvoll?

Eine andere, viel diskutierte Frage lautet, ob die Gültigkeit von Volksentscheiden von Zustimmungs- oder Beteiligungsquoren abhängig gemacht werden sollte. Die Praxis mahnt zur Vorsicht: So wanderten zum Beispiel dieses Frühjahr 25 Millionen Stimmen in Italien in den Papierkorb, obwohl sich 91 Prozent der Stimmen für ein neues Mehrheitswahlrecht ausgesprochen hatten. Der Grund: Mit einer Stimmbeteiligung von 49,6 Prozent war das geltende Beteiligungsquorum von 50 Prozent haarscharf verpasst worden. Siegerin des gescheiterten Urnenganges war schließlich die süditalienische Mafia, die zu einem Boykott der Abstimmung aufgerufen hatte.

Quorenbefürworter wollen verhindern, dass kleine, aber aktive Gruppen der Mehrheit ihre politische Agenda und letztlich auch Meinung aufdrängen können; die Gegner der Quoren argumentieren indessen, dass solche Regelungen die Bevölkerung dazu verleiten könnten, sich via Abstimmungsabstinenz der Debatte zu entziehen.
Zu einem Austausch von negativen und positiven Erfahrungen mit der direkten Demokratie lud diesen Sommer das in Washington beheimatete Initiative and Referendum Institute ein. Über 200 Politiker, Wissenschaftler und Vertreter der US-Abstimmungsindustrie (Beratungsfirmen, Anwälte und Dienstleister, die Kampagnen und Unterschriftensammlungen anbieten) folgten der Einladung zum ersten Treffen dieser Art in den Vereinigten Staaten. "Ich bin hier, weil ich vor kurzem entdeckt habe, welche gesellschaftlichen Energien die direkte Demokratie in diesem Land freisetzen kann", sagte der Kolumnist David S. Broder bei dieser Gelegenheit - die kleine Bemerkung des großen Journalisten von der Washington Post ist charakteristisch; die amerikanischen Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur scheinen die Reformpotenziale der direkten Demokratie zurzeit wohl eher zu unterschätzen.
Das war nicht immer so. Am Ende des 19. Jahrhunderts kämpften starke Bürgerbewegungen diesseits und jenseits des Atlantiks für eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie. In der Schweiz gelang der demokratischen Bewegung von Bauern, Handwerkern und Arbeitern der Durchbruch zuerst in den Kantonen - die Verfassung des Kantons Zürich wurde 1869 als Erste reformiert - und dann 1891 durch die Einführung der Volksinitiati- ve auch auf der nationalen Ebene. Der in Marburg lehrende Politologe Andreas Gross hat in seinen Arbeiten gezeigt, dass sich die demo- kratische Bewegung in den USA intensiv mit den schweizerischen Erfahrungen auseinander setzte. In den USA gehörte die Volksgesetz- gebung seit 1890 zu den Hauptforderungen des Progressive Movementund der Gewerkschaften. Als erster Bundesstaat führte South Dakota 1898 die Initiative und das Referendum ein. Es folgten bis heute 23 weitere US-Bundesstaaten.

Demokratie heißt Ungewissheit. Autoritäre mögen das nicht

Das Hauptmotiv formulierte der Journalist John N. Teal 1901 im Portland Globe: "Die Menschen spüren, dass die Politik immer abgehobener verläuft, und sie wollen mehr direkten Einfluss, sowohl was die Ausarbeitung der Gesetze betrifft als auch deren Durchsetzung." Vereinzelte Anläufe, die direkte Demokratie auch auf der nationalen Ebene einzuführen, scheiterten allerdings an fehlender Unterstützung in Senat und Kongress.

Die Einführung der Volksgesetzgebung in den US-Bundesstaaten und der Schweiz wurde sogar auf der anderen Seite der Weltkugel mit großer Aufmerksamkeit verfolgt: In die 1901 angenommene australische Bundesverfassung wurden schweizerische und amerikanische Elemente der direkten Demokratie aufgenommen. Australien ist bis heute - nach der Schweiz - das Land mit den meisten nationalen Volksentscheiden.

In föderalistischen Staaten haben es direktdemokratische Reformen einfacher. Sie kennen eine feinere Gewaltenteilung und sind Initiativen von unten gewohnt, anders als zentralistische Staaten. Deshalb überrascht es kaum, dass die aktivsten Bewegungen für die Ausweitung direkter Demokratie heute in den USA, der Schweiz, in Australien, Deutschland, Kanada, Italien und Belgien zu finden sind.
Unterdessen finden sich auch im Cyberspace Einzelkämpfer zusammen, um die Verwirk- lichung der gesetzgeberischen Ideale Rousseaus zu propagieren - ihr Stichwort heißt e-democracy. Doch bevor via Internet abgestimmt werden kann, müsse das Vertrauen der Öffentlichkeit in die neue Technik aufgebaut werden, sagt Ueli Maurer, der am Departement Informatik der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich an einem elektronischen Abstimmungsverfahren arbeitet. Dazu werden seiner Ansicht nach die Verbreitung des Internet in der Bevölkerung und die vermehrte Anwendung von Netzzertifikatsdiensten (elektronische Unterschriften, Fingerabdrücke, Augenerkennung), wie sie zum Teil schon von Finanzinstituten verwendet werden, beitragen.Mit ersten richtigen Abstimmungen übers Netz rechnet Maurer frühestens in zehn Jahren. Von größerer Bedeutung als für den eigentlichen Abstimmungsakt sei das Internet zurzeit als Instrument des Austausches von Ideen, Argumenten und Informationen. Darin ist es der direkten Demokratie immerhin seelenverwandt; sie ist gewissermaßen ein Dialog des Volkes mit sich selbst.

Letztlich lebt die Demokratie seit über 2500 Jahren wegen ihrer Schwächen: Sie garantiert keiner bestimmten Seite bestimmte Resultate. Den Mächtigen des blutigen und systemfixierten 20. Jahrhunderts war solche Unsicherheit stets zuwider und eine Ausweitung der Demokratie erst recht. Die Weltkriege setzten den Reformbestrebungen ein Ende; im Kalten Krieg blieb die Demokratie östlich des Eisernen Vorhanges im Gefrierschrank, westlich davon im Kühlfach. Diese Zeiten sind vorbei. Rousseaus Jünger dürfen wieder hoffen.

Bruno Kaufmann war Gastredakteur der ZEIT-Reformwerkstatt. Die Zeit 51/1999







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